Würzburger – Ferdinand, Samuel, Lina, Rosa, Ida, Selma und Bruno


Lage: Wettgasse 10 – Bad Mergentheim


Die Familie Würzburger ist die Familie, die unter den Mergentheimer Juden den höchsten Blutzoll entrichtete. Sämtliche sieben Familienmitglieder wurden in Lagern ermordet.

Hermann Fechenbach schrieb über die Familie:

Die armen Würzburger, die 1918 aus deutscher Vaterlandsliebe ihr heimatliches Hagenau im Elsaß verlassen hatten, wurden jetzt als Dank für ihre Treue im Konzentrationslager zu Tode gequält“ [1]

Die Familie Würzburger bestand aus sieben Personen: den Geschwistern Samuel (1870-1943), Rosa (1872-1942) , Lina (1877-1942) und Ferdinand (1874-1944) und dessen Familie.

Davon, dass die Geschwister aus Hagenau zugezogen waren, ist angesichts von Fechenbachs Aussage auszugehen. Allerdings irritiert der Geburtsort der Elsässer Geschwister – sämtliche vier Geschwister waren in Siegelsbach bei Sinsheim gebürtig. Denkbar wäre allenfalls, dass die Familie erst nach Linas Geburt 1877 in das seit dem deutsch-französischen Krieg deutsche Elsass übersiedelte.

Von den vier Geschwistern gründete lediglich Ferdinand eine Familie. Am 15. August 1920 heiratete er die Königheimerin Ida Sommer (1889-1944). Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Selma (1921-1942) und Bruno (1930-1944).

Die Familie hatte – wie erhaltene Steuerunterlagen aus der Zeit der Weimarer Republik beweisen – ihr Auskommen. Samuel und Ferdinand betrieben in Bad Mergentheim die „Likör- und Spirituosenfabrik B. Würzburger Söhne“, wobei der Firmenname darauf hindeutet, dass bereits der Vater Benjamin das Unternehmen gegründet hatte. Die Geschäftsbeziehungen der Likörfabrik beschränkten sich nicht auf die Region, sondern waren reichsweit vorhanden, sie reichten in zahlreiche Städte, wie Breslau, Berlin, Hamburg.
Gleichwohl war die Familie gewiss nicht reich. Die meiste Zeit beschäftigte das Unternehmen lediglich ein bis zwei Beschäftigte und auch das Wohnhaus war für 7 Personen eher beengt. Insgesamt standen in zwei Wohnungen 66 bzw. 40 Quadratmeter zur Verfügung.


Dass nach 1933 die wirtschaftlichen Repressionen durch die Nazis zunahmen und der Druck auf Unternehmer und Unternehmen wuchs, ist naheliegend und so verwundert es nicht, dass Samuel Würzburger im Jahr 1937 in die Niederlande floh. Besonders perfide erscheint im Zusammenhang mit Samuels Flucht ein Schriftwechsel zwischen Ferdinand Würzburger und dem Finanzamt aus dem Jahr 1938. Am 10. September meldete Ferdinand Würzburger unter „Aussenstände“ eine Verbindlichkeit seines Bruders „S. Würzburger, Rotterdam“ über 2595,– gegenüber der Firma Würzburger. Die Finanzbehörde reagierte daraufhin am 6. Oktober mit dem Hinweis, dass diese Forderung an eine inländische Devisenbank abzutreten sei und Ferdinand bis zum 12. Oktober 1938 „die genaue Anschrift [seines vor den Nazis geflohenen!] Gläubigers Würzburger anzugeben“ habe.

Gesichert ist, dass sich auch Ferdinand Würzburger mit Auswanderungsgedanken trug. Das legen die Steuerunterlagen vom 15. August 1938 nahe, die als Betreff: „Auswanderung des Ferdinand Würzburger“ [siehe Foto] anführen. In einer Vermögensaufstellung für das Finanzamt vom 10. September 1938 formuliert Ferdinand Würzburger allerdings „Zu einer Auswanderung besteht bei mir noch keine Aussicht. Sobald diese der Fall sein sollte, werde ich davon Kenntnis geben.“ Bekannt ist, dass Ferdinand Würzburger vier ihm persönlich bekannten Geschäftsleuten ein Verkaufsangebot für die Wohn- und Geschäftsräume unterbreitete. Von einem Interessenten ist bekannt, dass das Geschäft nicht zustande kam, da der Betrieb veraltet erschien. Wenn man bedenkt, dass die Emigration möglicherweise hieran scheiterte…

Auf das Ende des Unternehmens verweist schließlich ein Aktendeckel. Lapidar heißt es da: „Am 31.12.1938 Gewerbe eingestellt!“
Dieser Termin war nicht selbst gewählt. Vielmehr verlangte die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938, dass Juden ihre Gewerbebetriebe “binnen einer bestimmten Frist veräußern oder abzuwickeln“ hätten.


Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg K28/Bü45, Permalink

Im Jahr 1938 verlor die Familie Würzburger mit dem Unternehmen zugleich die Existenzgrundlage. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Am 8. November 1938 hat die nazistische Hölle alle Teufel losgelassen, so daß der Tempelschänder Belschazzar, König von Babylon, Hitler gegenüber wie ein Waisenknabe dasteht. In dieser sogenannten unvergeßlichen Kristallnacht wurden alle Synagogen in Deutschland niedergerissen, beschmutzt und verbrannt, Juden gemordet, verprügelt und ins Konzentrationslager geschleppt. […] Die Inneneinrichtung der [Mergentheimer] Synagoge wurde zertrümmert und die Heilige Lade mit Schweinefleisch beschmiert, Gebetsbücher, Hefte und Tintenfässer in der Schule und die Fensterscheiben, alles wurde fanatisch zerrissen und zerschlagen. Kein jüdisches Haus blieb verschont, und die Bewohner waren den brutalsten Misshandlungen wehrlos ausgeliefert. Dem letzten Synagogenvorsteher, Ferdinand Würzburger, war es noch möglich, die Kultgegenstände in der Synagoge zu retten; er übergab sie dem Spediteur Mühleck zur Aufbewahrung.“[2]

schreibt Hermann Fechenbach über die Ereignisse der Reichspogromnacht in Bad Mergentheim.

Ferdinand Würzburger war in dieser dunklen Zeit Synagogenvorsteher, wodurch das Ansehen, das er – obwohl erst nach 1918 zugezogen – innerhalb der jüdischen Gemeinde genoss, zum Ausdruck kommt.

Die Schändung der Synagoge wog schwer, sie nahm den Juden nun zusätzlich zum Verlust ihrer Bürgerrechte und der wirtschaftlichen Erwerbsgrundlage auch noch den geistlichen und sozialen Mittelpunkt.

Nachdem die Familie bereits 1938 ihr Geschäft aufgeben musste, verlor sie im Jahr 1940 schließlich auch ihr Zuhause. Hatte Ferdinand Würzburger in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, wie erwähnt, noch vergeblich einen Käufer für das Anwesen gesucht, so kam es nun am 8. Juli 1940 zum Verkauf an eine Mergentheimer Kolonialwarengroßhandlung. Ab August finden sich in den noch vorhandenen Kontounterlagen aller vier Geschwister Mietzahlungen an „Haus Berg“ in Höhe von 7,50 RM pro Person – vermutlich handelte es sich bei Haus Berg um ein sogenanntes „Judenhaus“ (denkbar ist, dass es sich um das Anwesen des 1937 nach Palästina emigrierten Julius Berg in der Ochsengasse 18 handelte). Der persönliche Besitz der Familie Würzburger war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr überschaubar. Vermutlich musste mit dem Auszug aus der Wettgasse auch der verbliebene Hausrat aufgegeben werden. Am 9. Oktober 1940 findet sich zumindest auf den Konten von Rosa und Lina ein Zahlungseingang von jeweils 110,– RM. Der Buchungstext lautet: „Einzahlung Auktionator Müller hier“.

Die Konten der Geschwister tragen alle den roten Sperrvermerk „Beschränkt verfügbares Sicherungskonto“, was bedeutete, dass die ledigen Schwestern monatlich lediglich über 180,– (ab 1942 reduziert auf 120,–) RM verfügen konnten und der nach der Deportation der Tochter nur noch dreiköpfigen Familie von Ferdinand Würzburger 400,– (ab 1942 180,–) RM zur Verfügung standen.

Die einzigen Lebensspuren, die Lina und Rosa Würzburger persönlich zugeordnet werden können, sind ihre Unterschriften auf den Formularen, mit denen sie den Käufer ihres Hauses davon in Kenntnis setzten, dass der Verkaufspreis auf ein beschränkt verfügbares Sicherungskonto zu erfolgen hat.


Die nächste und letzte Lebensspur von allen in Mergentheim verbliebenen Mitgliedern der Familie Würzburger ist ihr Name auf den Deportationslisten.


Selma Würzburger (10. Juli 1921- 6. Mai 1942), die Tochter von Ferdinand und Ida, war die erste, die deportiert wurde.

1940 wurde die 18-jährige wegen sogenannter „Rassenschande“ verhaftet – interessant ist in diesem Zusammenhang, dass „Rassenschande“ nach einer engen Auslegung der Nürnberger Rassegesetze bereits dann vorliegen konnte, wenn Küsse und Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden, die dem Geschlechtstrieb geschuldet waren. Man stelle sich vor, ein 18. jähriges Mädchen erlebt seine erste Liebe…

Selma Würzburger kam am 10.5.1940 ins KZ Ravensbrück, wo sie vermutlich im SS-Textilunternehmen Texled Sklavenarbeit leisten musste.

Im Industriehof mussten die Häftlinge in bis zu zwölfstündigem Schichtbetrieb in der Schneiderei zunächst KZ-Häftlingskleidung herstellen, später wurden hauptsächlich Ausrüstungs- und Bedarfsgegenstände militärischer und ziviler Art vornehmlich aus Textilien und Leder gefertigt. […] Diese Frauen […] waren […] nicht ohne weiteres austauschbar, trotzdem erhielten auch sie nur unzureichende Essensrationen und waren Misshandlungen und Schikanen ausgesetzt, insbesondere wenn sie das fast unmögliche Produktionssoll nicht erreichten.“[3]

Im April 1942 war Selma der Arbeitsbelastung nicht mehr gewachsen. Nach den NS-Richtlinien wurden von Ärztekommissionen Listen über nicht mehr „nützlich einsetzbare Häftlinge“ erstellt, so genannten „Ballastexistenzen“, die vergast wurden. Da Ravensbrück über keine eigenen Gaskammern verfügte, wurde Selma Würzburger mit über 1.600 mitgefangenen Frauen, davon etwa die Hälfte Jüdinnen, in die NS-Tötungsanstalt Bernburg verlegt und dort am 6. Mai 1942 ermordet.

Am 24. April 1942 wurde mit Lina Würzburger (8. Mai 1877 – 26. April 1942) das nächste Familienmitglied deportiert. Ziel der Fahrt war das Durchgangsghetto Izbica.

Hermann Fechenbach schreibt über diesen Transport, den Lina gemeinsam mit Rosa Ledermann (geb. 1877), Hanna Rothschild (geb. 1892) und ihrer Tochter Käthe (geb. 1926) erdulden musste:

Auch sie wurden unter polizeilicher Aufsicht wie Schwerverbrecher zum Bahnhof gebracht und zum Sammellager Stuttgart-Weißenhof abtransportiert. Hier waren es 278 Personen, welche am 26. April 1942 nach Izbica, Distrikt Lublin, in Viehwagen verfrachtet wurden, und keiner von ihnen kam zurück. Wer nicht schon durch schwerste Fronarbeit und an Hunger in den ersten Monaten umkam, wurde als „arbeitsuntauglich“ den Vernichtungslagern Belzec oder Majdanek übergeben.[1]

In Izbica verliert sich Lina Würzburgers Spur, doch ist davon auszugehen, dass die 65-Jährige den Torturen nicht lange standhalten konnte. Überhaupt ist fraglich, ob Izbica im April 1942 noch eine echte Ghettofunktion hatte.

Foto: Wikipedia

Robert Kuwałek stellt in seinem Werk „Das Transitghetto Izbica“ zwei Hypothesen auf. Entweder der Zweck der Deportation nach Izbica habe der Propaganda gedient, die den zurückgebliebenen Familienmitgliedern suggerieren sollte, dass die Angehörigen lediglich zur Arbeit im Osten umgesiedelt wurden – bei der 65-jährigen Lina Würzburger wäre dies wenig überzeugend gewesen – oder aber die Gaskammern in den Vernichtungslagern hätten noch nicht über eine ausreichende Kapazität verfügt. Der Umstand, dass im Oktober und November 1942 zahlreiche Transporte erfolgten, erhärtet diese These.[4]

Am 20.8.1942 wurden die letzten Familienmitglieder, mit dem zugleich letzten aus Mergentheim abgehenden Transport, deportiert. Ziel der Fahrt war Theresienstadt.

Ferdinand Würzburger wurde mit seiner Frau Ida (geb. 1889), seinem Sohn Bruno (geb. 1930) und seiner Schwester Rosa (geb. 1872) mit elf weiteren Juden dorthin deportiert.

Bereits am 8. September 1942 starb Rosa in Theresienstadt.

Am 6. April 1944 starb Ferdinand in Theresienstadt.

Am 9. Oktober 1944 erreicht ein Transport mit 1.550 Menschen von Theresienstadt kommend Auschwitz. 191 Frauen und mehrere Dutzend Männer werden in das Durchgangslager eingewiesen; die anderen, unter ihnen Ida und Bruno Würzburger, werden am selben Tag in den Gaskammern ermordet.

Samuel Würzburger ist das einzige Mitglied der Familie, der die Flucht aus Deutschland ergriff. Am 15. Februar 1937 emigrierte er nach Holland. Der einzig vorhandene Verweis auf seinen Wohnort Rotterdam, findet sich in dem bereits erwähnten Briefwechsel seines Bruders Ferdinand mit dem Finanzamt aus dem Jahr 1938. Ob Samuel Würzburger geplant hatte, in den Niederlanden zu warten bis der „braune Spuk“ vorüber war oder aber eine Weiterreise in die USA oder Großbritannien geplant hatte, wissen wir nicht.

Nach der niederländischen Kapitulation am 14. Mai 1940 begannen die Maßnahmen gegen die in Holland lebenden Juden. Samuel Würzburger wohnte zu der Zeit in Amsterdam in der Herengracht 121/1. Die Herengracht ist die innerste der drei zum Amsterdamer Grachtengürtel gehörenden, konzentrisch um die Altstadt Amsterdams herum angelegten Grachten.

Wann Samuel Würzburger in das „Polizeiliche Judendurchgangslager Westerbork“ deportiert wurde, ist nicht bekannt. Bekannt ist lediglich das Datum seiner Weiterdeportation nach Auschwitz.


Bild: Herinneringscentrum Kamp Westerbork.

Am 29.01.1943 verlässt ein Transport mit 419 Frauen und Mädchen sowie 240 Männer und Jungen Westerbork. Bei den Deportierten handelt es sich nach Auffassung der NS-Lehre um jüdische und somit unerwünschte Elemente. Der Transport trifft am 31.01.1943 in Auschwitz ein, nur 50 Männer und 19 Frauen bleiben zunächst als Häftlinge am Leben, die anderen 590 Menschen, unter ihnen Samuel Würzburger, werden unmittelbar in den Gaskammern ermordet. Samuel Würzburger stirbt am 1. Februar 1943.


1. Fechenbach, Hermann: Die letzten Mergentheimer Juden. Nachdruck der Stadt Bad Mergentheim anläßlich des 100. Geburtstags von Hermann Fechenbach. S. 179f.

2. Die letzten Mergentheimer Juden, S. 160f.

3. https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Ravensbr%C3%Bcck#Situation_der_H%C3%A4ftlinge

4. vgl. Robert Kuwałek: Das Transitghetto Izbica. In: bildungswerk-ks.de. Zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Izbica

Verlegedatum: 07. Oktober 2021
Patenschaften: Ferdinand Würzburger - Vorhanden | Samuel Würzburger - Vorhanden | Lina und Rosa Würzburger - vorhanden | Ida und Selma Würzburger - Brigitte Kaupat | Bruno Würzburger - Axel Bähr
Autor: RH